Die Welthauptstadt der Fliegenpilze
Die Welthauptstadt der Fliegenpilze
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Der Harz gehört zu den berühmtesten deutschen
Landschaften. Tiefe Wälder, schroffe Berge, deutsches
Brauchtum, festes Schuhwerk und ein Lied auf den Lippen:
So sahen in den Jahrzehnten vor den Billigfliegern
Richtung Sonne deutsche Ferien aus. Diese Zeiten sind
lange vorbei. Für den, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, klingt schon der Name Bad Harzburg - "das Tor zum Harz" - nach Langeweile und Ödnis. Bad Harzburg klingt nach Krankenkasse, orthopädischem Schuhwerk und seltsamen Käsespezialitäten. Dagewesenist aber fast jeder schon einmal. Ob auf Klassenfahrt oder um die Großmutter während ihrer offenen Badekur zu besuchen. Schlimmstenfalls, um hier mit den Eltern selbst Ferienwochen zu verbringen. Wie jedes andere deutsche Kurbad mußte sich auch Bad Harzburg den veränderten Zeiten anpassen, spätestens seit mit der Gesundheitsreform die Badekur zum Relikt vergangener Zeiten geworden ist. Erstaunlich aber ist die Zahl von 531 852 gemeldeten Übernachtungen für das vorige Jahr. 97 598 Gäste haben durchschnittlich sechs Tage in Bad Harzburg verbracht, nicht eingerechnet die Tagesgäste. Auf den ersten Blick erscheint die Stadt, die fünfundzwanzigtausend Einwohner zählt, wie ein riesiges Seniorenheim. Das Alter fast aller Passanten liegt jenseits der Fünfundsechzig, die Geräusche in der Innenstadt sind wie durch Watte gedämpft, das Tempo aller Bewegungen erscheint seltsam zeitlupenhaft. Über den Dächern liegt eine beruhigend einlullende und blutdrucksenkende Atmosphäre von mildem Lebensabend. Bad Harzburg ist zu jeder Jahreszeit gut besucht. Auf der "Bummelallee", dem zur Fußgängerzone gemachten Herzstück der Herzog-Wilhelm-Straße, herrscht reges, kleinstädtisches Leben. Gebummelt wird hier allerdings weniger. Die Passanten, fast allesamt Kurgäste, bewegen sich größtenteils komplizierter vorwärts. Gestützt auf Gehhilfen aller Art oder in Elektro-Rollstühlen flaniert man hier. In den Schaufenstern der Geschäfte wird gediegene Kleidung in Übergrößen und Schattierungen von Dunkelbraun bis Beige angeboten. Prachtvoll dagegen die Schaufenster der vielen Cafés, in denen sich die erstaunlichsten Tortenkreationen zu bunt schillernden Bergen auftürmen. Was nicht Café oder gediegene Boutique ist, muß zwangsläufig medizinisches Fachgeschäft sein. Im Stadtzentrum, gegenüber der jüngst restaurierten Holzfassade des Hotels Victoria, erhebt sich auf grüner Rasenfläche ein seltsamer Riesenvogel, zusammengesetzt aus bunt blühenden Pflanzen. Die goldene Krone sitzt schief, das rechte Auge fehlt. Giftig starrt die einäugige Riesenskulptur auf das geruhsame Leben des Platzes, so als könnte sie jederzeit mit ihrem Blechschnabel eine der zahlreichen alten Damen von der Straße wegpicken. Der eigenwillige, fast bizarre Charme des heilklimatischen Luftkurortes erschließt sich aber auch dem oberflächlichsten Besucher schnell: Bad Harzburg ist ein Gesamtkunstwerk, Kunst im öffentlichen Raum, wohin man blickt. Da steht eine bronzene Dame in langem Kleid neben einem Esel und erinnert an den Beginn des Kurbetriebs im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, als man den Burgberg noch hinaufritt. Ein paar Schritte weiter rosten verwegene Metallkonstruktionen der siebziger Jahre im brackigen Wasser eines Brunnens vor sich hin. Am Karl-Franke-Platz galoppiert unvermittelt eine etwas zerzauste Buchsbaumhecke dem Betrachter entgegen. Pferde und Reiter sind mit viel Liebe aus dem Grün herausgeschnitten. Der Drang zur Dekoration scheint in Bad Harzburg allgegenwärtig. Beliebtestes Motiv ist der Fliegenpilz. Ob putzig klein in den Schaufenstern der Souvenirgeschäfte oder riesig groß als Kassenhäuschen der Kindereisenbahn am künstlich angelegten Wasserfall der Radau. "Karten im Fliegenpilz", befiehlt hier ein kleines Schild. In Bad Harzburg scheinen sämtliche Größenverhältnisse ins Gegenteil verkehrt. Aus klein wird groß, aus winzig riesig und umgekehrt. Das gesamte Personal der deutschen Märchen- und Sagenwelt bevölkert die Stadt, die an manchen Ecken auf geradezu unheimliche Weise einer putzigen Vergrößerung deutschen Schrebergartenglücks ähnelt. Überall ulkige Zwerge, tönerne Rehe, Miniaturglashumpen mit aufgemalten Landschaften und in Holzscheiben eingeschnitzte Sinnsprüche. An anderen Stellen erinnert Bad Harzburg an Illustrationen aus deutschen Kinderbüchern der zwanziger und dreißiger Jahre, an eine lang vergangene Welt unschuldiger Gemütlichkeit. Eine der seltsamsten Harzburger Attraktionen ist der sogenannte "Märchenwald", im Zeitalter virtueller Computerwelten und Disneyland ein geradezu verwegener Anachronismus. Was einst womöglich Kinderherzen beglückte, wirkt heute eher beklemmend. Fünf bemalte Häuschen, in denen bewegliche Bühnenbilder mit trostlosen Puppen Szenen aus Märchen nachstellen. Hinter trüben Glasscheiben surrt eine wackelige Hexe in den Ofen, tanzen die sieben Geißlein und schimmelt Dornröschen zwischen Plastikrosen. Ein paar Meter entfernt dümpeln im "Piratenteich" ramponierte Playmobil- Schiffchen vor sich hin und kämpfen Lego-Soldatengegen riesige Plastikenten. An der "naturgetreuen Modellanlage" der Brockenbahn platzt allenthalben die Farbe ab. Ein kleiner Zug müht sich quietschend durch eine Dekoration von bemoosten Spielzeughäuschen. Inmitten dieser von Wind und Wetter mitgenommenen Märchenwelt steht ein mit bunten Lichterketten geschmückter Kiosk, in dem ein schlechtgelauntes Rotkäppchen Pommes frites in der Mikrowelle heiß macht. Unter den deutschen Bädern und Kurorten gehört Bad Harzburg zu den weniger glamourösen. Sind Baden-Baden, Bad Homburg, Wiesbaden, Bad Ems oder Bad Reichenhall bis heute klangvolle, wenn auch verwitterte Namen mit illustrer Vergangenheit, so klebt an Bad Harzburg ein denkbar altbackenes Image. Hier verspielten keine Adligen das Familienvermögen, flanierten keine russischen Großfürstinnen und überwinterten keine millionenschweren Industriellen. Auch für Künstler war Bad Harzburg nicht besonders attraktiv, wenn auch Adolf von Menzel hier einige Male Urlaub verbrachte. Die Geschichte Bad Harzburgs ist kurz. Zum Luftkurort wurde der Ort 1892, zur Stadt zwei Jahre später. Mit der Eingemeindung der umliegenden, wesentlich älteren Ortschaften erhielt sie 1972 ihre heutige Größe. Über Jahrhunderte war der Harz eine der ärmsten und unzugänglichsten, deshalb wohl auch sagenumwobenen deutschen Landschaften. Hier wurden Erze abgebaut, in der Gegend um Goslar auch Edelmetalle. Später diente die Sole der Salzgewinnung. Dunkle, rauschende Wälder, schroffe Gebirge - es war schon immer eine eher düstere, alles andere als blühende Landschaft. Erst die Romantik des neunzehnten Jahrhunderts entdeckte ihre Schönheit. Mit Goethes Harzreisen in den Jahren 1777, 1783 und 1784 wurde der Harz zur deutschen Seelenlandschaft verklärt. Als dann Heinrich Heine in den Harz reist, stand die Region schon unmittelbar vor ihrer touristischen Erschließung. Reisen war nicht länger ein Privileg des Adels oder des reichen Bürgertums. Schon 1843 gab es eine Eisenbahnverbindung zwischen Harzburg und Halberstadt, seitdem ist es den Bewohnern der umliegenden Großstädte wie Hamburg, Leipzig, Hannover oder Berlin möglich, bequem in die sagenhafte Bergwelt des Harzes zu reisen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts, mit der Ernennung zum Kurbad, baut sich Harzburg für die enorme Summe von einer halben Million Reichsmark eine Trink- und Wandelhalle. In der Zeit bis 1933 erlebt Bad Harzburg eine kurze Blüte. Es kommt wohlhabendes Publikum aus ganz Deutschland und Holland. Die Pferderennen auf der landschaftlich eindrucksvoll gelegenen Naturrennbahn sind gesellschaftliche Ereignisse. 1929 wird die Kabinenseilbahn auf den großen Burgberg gebaut. Mit den Resten der von Heinrich IV. errichteten Burg und der 1877 eingeweihten Canossa-Säule wird dieser von rauschendem Nadelwald bedeckte Berg zu einem Wallfahrtsort deutscher Vaterlandsliebe. In den zwanziger Jahren praktizierten sieben zugelassene Badeärzte in Bad Harzburg. Einer von ihnen war der Chirurg Dr. Ernst Flinzer, der, eine Sensation für die damalige Zeit, mit einem kleinen Elektroauto zu seinen Visiten fuhr, begleitet von der auf dem Rücksitz mitfahrenden Schäferhündin Fränze. Doch 1933 hatte dieses beschauliche Badeleben ein jähes Ende. Die jüdischen Gäste, die mondänes Leben und Geld nach Bad Harzburg gebracht hatten, fuhren nun nicht länger in die Sommerfrische, sondern waren anderswo auf der Flucht. Statt dessen durchwanderten mit strammem Schritt "Kraft durch Freude"-Reisegesellschaften die deutschesten aller deutschen Wälder. Im Oktober 1931 schon hatte das beschauliche Bad Harzburg im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden. Als "Nationale Opposition" versammelten sich hier NSDAP, Deutschnationale Volkspartei, Stahlhelm und Alldeutscher Verband zu einer Großveranstaltung im Kampf gegen die Weimarer Republik. Die "Harzburger Front" bot Hitler zudem Gelegenheit, die Eigenständigkeit der Nationalsozialisten und ihren Führungsanspruch im rechten Lager zu demonstrieren. Im nahen Braunschweig mobilisierten Hitler und seine Anhänger hunderttausend zum bis dahin größten Aufmarsch der Nazis. Als Lazarettstadt überstand Bad Harzburg den Krieg fast unbeschädigt. Dafür beging man in den Jahrzehnten nach 1945 viele Bausünden. In die schnittigen fünfziger und sechziger Jahre paßten die traditionell holzverkleideten und schindelgedeckten Häuser nicht mehr. Viele der alten Bauten, die den romantisch altdeutschen Charme Harzburgs ausgemacht hatten, verschwanden entweder völlig oder wurden durch Umbauten und moderne Fassaden entstellt. Die Herzog-Wilhelm-Straße, die Hauptgeschäftsstraße, ist heute verwechselbare Fußgängerzone. Hier erinnert nur noch der alte Baumbestand an schönere Tage. Auch von den großen Hotels der Jahrhundertwende stehen nur noch wenige. Der Harzburger Hof, einst erstes Haus am Platz, wartet seit dem Auszug der Spielbank als Investitionsruine in einem verwilderten Park auf eine ungewisse Zukunft. Bodes Hotel, ein prachtvoller Holzpalast, ist vor einigen Jahren abgebrannt. Ebenso das Hotel Juliushall - hier steht heute ein betongegossenes Appartementhaus der achtziger Jahre als trostloses Mahnmal späten Wirtschaftswunderglücks. Das Dilemma zwischen Denkmalschutz, notwendigen Modernisierungen, Rentabilität und dem verständlichen Ehrgeiz Bad Harzburgs, Anschluß an neuere Zeiten finden zu wollen, wird gerade am Schicksal dieser alten Hotels deutlich. Fließend warmes und kaltes Wasser und rauschende Tannen allein locken heute niemanden mehr. Mit Silberbornbad, Sole-Therme, einer Sauna-Erlebniswelt und den verschiedenen Trinkbrunnen versucht sich Bad Harzburg als modernes "Wellnessbad" auch für jüngere Zielgruppen zu etablieren. Ob allerdings die neuesten medizinischen Therapieangebote wie die "Colon-Hydro- Therapie", eine Methode zur Darmentleerung, eine jüngere Klientel begeistern wird, ist zu bezweifeln. So bleibt doch Bad Harzburg bis auf weiteres fest in den Händen betagter Damen und älterer Ehepaare. Genau das macht auch den verschrobenen Charme Bad Harzburgs aus. Im Frühstücksraum der Hotelpension Bismarck sind neben dem Frühstücksbüfett adrett Stoffservietten aufgereiht. Auf den Serviettenringen kleben Zettel mit den Namen der Stammgäste. Eine Reisegruppe älterer Damen sitzt plauschend beim Frühstück, auf die Frage, woher die Damen denn kämen, antwortet eine von ihnen nicht ohne Stolz: "Aus Dortmund." "Von so weit her?" antwortet staunend die Serviererin. In Bad Harzburg scheint nicht nur die Zeit stehengeblieben, auch Entfernungen werden hier anders bemessen als anderswo. Die Pension Bismarck ist ein Haus von altem Schlag. Die Zimmer riechen nach feuchtem Holz, im Treppenhaus, mit Nippes vollgestopft, hängt der Geruch schwerer deutscher Mahlzeiten. 3660 Betten gibt es in Bad Harzburg: in 28 Hotels, siebzehn Pensionen, acht Gästehäusern, vier Kliniken und Sanatorien, zahlreichen Privatzimmern und 213 Ferienwohnungen. Zentrum des Ortes ist die Trink- und Wandelhalle mit dem gegenüberliegenden alten Kurmittelhaus, dem Neubau des Casinos und vor allem dem eigentlichen Kurhaus, einem eigenwilligen Gebäude der siebziger Jahre. Sein Fest- und Veranstaltungssaal ist heute das kulturelle Zentrum Bad Harzburgs. An diesem Heimatabend der "Fröhlichen Harzgebirgler" ist der Saal voll besetzt, die meisten der Tische sind für die Gäste des Hotels Victoria reserviert. Höhepunkt des Programms ist, neben der Akkordeonistin, die über zwei Stunden auf der Bühne nicht das Gesicht verzieht, die junge Jodlerin Katharina, erste Preisträgerin eines lokalen Jodelwettbewerbs und eigenwilligstes Talent des Ensembles. Die ganze Ambivalenz Bad Harzburgs, diese merkwürdige Symbiose aus altdeutscher Folklore, touristischer Verwahrlosung, dunkler deutscher Melancholie und schildbürgerhafter Skurrilität, personifiziert sich im Vortrag dieses Mädchens. Singen kann sie nicht. Der mutlose, helle Sopran klingt so brüchig und farblos, daß sich das Publikum eher auf die Harzburger Käse- und Wurstplatten konzentriert. Als Katharina dann allerdings zu jodeln beginnt, wechselt die Stimmung im Saal ganz unvermittelt. Denn diese Jodelschreie sind ganz echt und ergreifend. Wenn in Bad Harzburg abends die Lichter ausgehen, Schneewittchen, die Fliegenpilze und die Dortmunder Damen in der Pension Bismarck im Bett liegen, dann gibt es noch Leben im "Domizil", einer Diskothek für die "älteren Semester". Hier trifft sich, was noch einigermaßen beweglich und an Begegnungen fern gemeinsamer Fangopackungen interessiert ist. An der Bar sitzt Hussein, ein junger Mann mit Filmstarprofil, intensiven dunklen Augen, einer Krawatte mit einem Muster aus Dollarnoten und originellen Deutschkenntnissen. "Luft so gut in Bad Harzburg. Hier tief einatmen immer möglich. Und Stille. Stille wie nirgendwo sonst. Aber langweilig - natürlich. Ja, sehr langweilig. Aber schön." Hussein ist Altenpfleger, türkisch-italienischer Abstammung und arbeitet in einem der Bad Harzburger Pflegeheime. "Niemand kommt zu Besuch, alle immer allein. Traurig! Und alle warten immer. Dann ist das Herz leer. Warum kommt niemand? Aber Bad Harzburg, ich nicht mehr weg." Hussein hat den Traum, sich mit einem Pflegedienst in der Stadt selbständig zu machen. Bis dahin wird er wohl noch an manchem Wochenende im "Domizil" sitzen und einsame Kurherzen verwirren. Auszug aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 24/12/2002 |